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Warum der IS Russland attackiert hat - und Russland der Ukraine die Schuld zuschiebt

DOHA: Der Terroranschlag auf die Konzerthalle „Crocus City Hall“ in einem Moskauer Vorort war kein Blitzschlag aus heiterem Himmel. Der Kreml hatte Warnungen der US-Geheimdienste vor einem bevorstehenden Anschlag durch „Extremisten“ verworfen – womöglich, um bei dessen letztlichem Eintreten einem praktischen Sündenbock die Schuld dafür zuzuschieben.

Die Ermordung von 137 Konzertbesuchern ist nur die jüngste Gräueltat in einem inzwischen ein Jahrzehnt währenden Konflikt zwischen dem Islamischen Staat (IS) und Russland. Die Würfel dafür fielen am 30. September 2015, als Russland in Syrien intervenierte, um das kollabierende Regime von Bashar al-Assad zu stützen. IS-Mitglieder reagierten einen Monat später, indem sie in den Flughafen im ägyptischen Sharm El-Sheikh eindrangen und dort eine Bombe in einem russischen Airbus platzierten, die alle 224 Passagiere und die Crew tötete.

Als Vergeltung tötete Russland angeblich im September 2017 den ehemaligen „Kriegsminister“ des IS, Gulmurod Khalimov, einen früheren Kommandeur der Polizei-Spezialeinheit des tadschikischen Innenministeriums, der im tadschikischen Bürgerkrieg an der Seite der russischen Streitkräfte gekämpft hatte. Alle mutmaßlichen Teilnehmer des Anschlags auf die Crocus City Hall stammen aus Tadschikistan.

Die syrischen „Provinzen“ des IS – wie etwa die nicht mehr bestehenden Gliederungen Homs und Raqqa – kämpften in Dutzenden von Schlachten gegen reguläre und irreguläre russische Truppen, darunter Söldner der Wagner-Gruppe, insbesondere in den Jahren 2015, 2016 und 2017 in Palmyra. Besonders peinlich waren für den russischen Präsidenten Wladimir Putin die Kämpfe im Dezember 2016, als die IS-Truppen die Stadt von seinen Streitkräften und Verbündeten zurückeroberten.

Zwischen 2015 und 2024 hat Russland viele erklärte Feinde des IS unterstützt. Dies schließt die militärische und nachrichtendienstliche Koordination mit der Hisbollah, politische Unterstützung für die Hamas und politische, nachrichtendienstliche und womöglich militärische Unterstützung für die Taliban mit ein. Alle drei Organisationen haben erbitterte Kämpfe gegen die „Provinzen“ des IS und seine Zellen im Libanon, Syrien, Gaza und Afghanistan geführt.

Die Wagner-Gruppe und ihre Überreste im sogenannten Africa Corps haben den IS zudem in Libyen, Mozambique und Mali bekämpft. ISIS-Khorasan (ISIS-K) – die Gruppe, deren Mitglieder Vermutungen zufolge den Anschlag auf die Crocus City Hall verübten – ist primär in Afghanistan und Pakistan aktiv. Die „Provinz“ Khorasan trat erstmals im Januar 2015 offiziell in Erscheinung, als abtrünnige Taliban und andere Gruppen dem IS Gefolgschaft schworen.

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Wie andere relativ große „Provinzen“ des IS ist ISIS-K eine brigadegroße Militärorganisation, die bereits gegen fast alle staatlichen und nicht staatlichen Kräfte in ihrem Operationsgebiet oder dessen Umland gekämpft hat. Im August 2021, während des US-Abzugs aus Afghanistan, verübte sie einen Selbstmordanschlag, bei dem in Kabul 13 amerikanische Militärangehörige und mindestens 169 Afghanen getötet wurden, dann im September 2022 einen Anschlag auf die russische Botschaft in Kabul, bei dem zwei Botschaftsangehörige getötet wurden, und im Januar angeblich einen Bombenanschlag durch zwei Selbstmordattentäter bei den Feierlichkeiten im Iran anlässlich des Todestages von Generalmajor Qassem Suleimani.

Die Kriegsführung des IS kombiniert in geschickter Weise konventionelle, terroristische und Guerilla-Taktiken. Obwohl weithin verhasst, massiv in der Unterzahl und von seiner Bewaffnung her erdrückend unterlegen, hat es der IS daher geschafft, in einem von den südlichen Philippinen bis nach Westafrika reichenden Gebiet zeitweise über 120 Großstädte, Kleinstädte und Dörfer besetzt zu halten, und er hat überlebt, obwohl fast 80 Staaten ihn bekämpften. Russlands hybride Kriegsführung auf der Krim und im Donbass in 2014 ahmte in vieler Hinsicht Taktiken nach, die der IS 2013 zur Besetzung von Raqqa und anderen Städten genutzt hatte.

Doch die IS-Führer sind schlechte Strategen ohne brauchbaren militärischen Ansatz, denn ihre Ziele reichen von al-Qaeda und den Taliban bis hin zu den USA und ihren Verbündeten. Auch der Iran und Russland gehören dazu.

Putins Russland freilich eine lange Geschichte von Operationen unter falscher Flagge. Am bekanntesten ist womöglich der Anschlag in Rjasan im September 1999. Dieser Vorfall, der sich vor dem Hintergrund einer Reihe tödlicher Bombenattentate in Moskau und anderen russischen Städten ereignete, warf profunde Fragen über Putins Beteiligung an Staatsterrorismus auf, um anscheinend die eskalierenden Militärmaßnahmen in Tschetschenien zu begründen und so seine Macht zu konsolidieren.

Blicken wir nun auf den März 2024. Obwohl nur drei Kilometer entfernt von der Crocus City Hall ein Stützpunkt der russischen Nationalgarde (Rosgwardija) liegt, dauerte es bis zur Mobilisierung der Sicherheitskräfte über 90 Minuten – und das trotz der Warnungen vor möglichen Anschlägen, die der Kreml erhalten hatte. Egal, ob dies durch Inkompetenz bedingt ist oder durch eine Verschwörung, Putin scheint sich bereits entschieden zu haben, wo die Schuld zu suchen ist: in der Ukraine.

Leichen und ein niedergebrannter Unterhaltungskomplex in der russischen Hauptstadt nur wenige Tage nach Putins „Wiederwahl“ sind nicht nur von der Optik her schrecklich. Sie sind das Ergebnis von Sicherheitsverstößen, Geheimdienstversagen und womöglich Schlimmerem. Doch der Kreml scheint entschlossen, seinen massiven Propaganda-Apparat zu nutzen, um die öffentliche Wut auf die Ukraine zu lenken.

Obwohl Russland im Winter die operative Initiative zurückerlangt hat, ist es weit davon entfernt, seine strategischen Ziele in der Ukraine zu erreichen. Tatsächlich kontrolliert Russland nach 18 Monaten mit hundertausenden russischen Toten und Verwundeten und Kosten in Milliardenhöhe noch immer nicht das gesamte Gebiet der „annektierten“ Oblasten.

Für großumfängliche Angriffsmanöver braucht Russland mehr Soldaten, mehr heimische Ressourcen und weniger zivilen und bewaffneten örtlichen Widerstand. Es ist durchaus möglich, dass Putin – Musterbeispiel eines Zynikers, das er ist – den Anschlag auf die Crocus City Hall zugelassen hat, um darauf gestützt die Massenmobilisierung durchzudrücken, die heimische Unterstützung für den Krieg zu stärken und Widerstand gegen seine Herrschaft weiter zu erschweren. Wie der IS scheint Putins Krieg gegen die Ukraine fortzudauern und zu expandieren.

Aus dem Englischen von Jan Doolan

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