3006d20346f86f380ef9b11a_pa2947c.jpg Paul Lachine

Was steckt hinter dem BRIC-Konzept?

SAO PAULO: Brasilien, Russland, Indien und China haben kürzlich ihren zweiten Jahresgipfel in Brasilia abgehalten. Die Journalisten überschütten diese so genannten „BRIC“-Staaten weiterhin mit Aufmerksamkeit; ich allerdings bleibe, was dieses Konzept angeht, skeptisch.

Geprägt wurde der Begriff 2001 bei Goldman Sachs, wo man die Aufmerksamkeit auf profitable Chancen in Ländern zu lenken suchte, die als „Schwellenländer“ betrachtet wurden. Der Anteil der BRIC-Staaten am weltweiten BIP stieg von 16% im Jahr 2000 auf 22% in 2008. Zusammen haben sie die anschließende globale Rezession überdurchschnittlich gut bewältigt; sie stellen gemeinsam 42% der Weltbevölkerung, und ein Drittel des globalen Wirtschaftswachstums der letzten zehn Jahre entfällt auf sie. Lässt man die USA beiseite (die bei der Bevölkerungszahl an dritter Stelle stehen), so lag das jährliche Wirtschaftswachstum der vier anderen bevölkerungsreichsten Länder – China, Indien, Indonesien und Brasilien – 2000-2009 bei gut 5-6%.

Für die Weltwirtschaft ist dies offensichtlich eine gute Nachricht. Doch hat hier ein wirtschaftlicher Begriff ein politisches Eigenleben angenommen, und zwar trotz der Tatsache, dass Russland nur schlecht in diese Kategorie passt. Der Beijing Review kommentierte: „Als Goldman Sachs das Akronym BRIC im Jahre 2001 erfand, hätten sich weder die Ökonomen noch die übrige Welt vorstellen können, dass Brasilien, Russland, Indien und China sich eines Tages irgendwann zusammensetzen würden, um gemeinsam eine wichtige Plattform aufzubauen.“ Im Juni 2009 kamen die Außenminister der vier Länder erstmals im russischen Jekaterinburg zusammen, um ein einprägsames Akronym in eine internationale politische Kraft umzuformen.

Die BRIC-Staaten halten zusammen 2,8 Billionen Dollar – das sind 42% – der globalen Devisenreserven (obwohl das Meiste davon den Chinesen gehört). Der russische Präsident Dmitrij Medwedew erklärte daher in Jekaterinburg: „Es kann kein erfolgreiches globales Währungssystem geben, wenn die dabei genutzten Finanzinstrumente nur auf eine Währung lauten.“ Nachdem China die USA als größter Handelspartner Brasiliens ablöste, gaben China und Brasilien Pläne bekannt, ihren Handel in ihren nationalen Währungen abzuwickeln statt in US-Dollar. Und obwohl auf Russland lediglich 5% des chinesischen Handels entfallen, haben diese beiden Länder eine ähnliche Übereinkunft verkündet.

Nach der jüngsten Finanzkrise hat Goldman Sachs noch eins drauf gelegt und prognostiziert, dass das gemeinsame BIP der BRIC-Staaten das der G7-Länder bis 2027 übertreffen könnte – etwa zehn Jahre früher als ursprünglich erwartet. Nun erweisen sich derart simple Extrapolationen aktueller wirtschaftlicher Wachstumsraten aufgrund unvorhergesehener Ereignisse häufig als falsch. Doch egal, welchen Wert diese lineare Wirtschaftsprojektion haben mag: Was die langfristige Einschätzung der globalen Machtbeziehungen angeht, macht der Begriff BRIC noch immer wenig Sinn.

Während eine BRIC-Konferenz der Koordinierung gewisser kurzfristiger diplomatischer Taktiken dienen mag, wirft der Begriff stark unterschiedliche Länder zusammen, zwischen denen tiefe Trennlinien bestehen. Es ergibt wenig Sinn, Russland, eine ehemalige Supermacht, mit drei sich entwickelnden Volkswirtschaften zusammenzugruppieren. Von den vier Mitgliedern hat Russland die kleinste und am stärksten alphabetisierte Bevölkerung und das deutlich höchste Prokopfeinkommen, und noch wichtiger ist, dass sich Russland nach Ansicht vieler Beobachter im Niedergang befindet, während die Machtressourcen der drei anderen zunehmen.

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Das heutige Russland leidet nicht nur stärker unter den Folgen der weltweiten Rezession, sondern steht zudem vor ernsten langfristigen Belastungen: einem Mangel an diversifizierten Exporten, schweren demografischen und gesundheitlichen Problemen und, in Medwedews eigenen Worten, einem dringenden „Modernisierungsbedarf“. Die Financial Times hat jüngst darauf hingewiesen, dass Russland vor nur zwei Jahrzehnten „eine wissenschaftliche Supermacht war, in der mehr geforscht wurde als in China, Indien und Brasilien zusammen. Inzwischen ist es abgehängt – nicht nur von China, wo die Wissenschaften das weltweit stärkste Wachstum verzeichnen, sondern auch von Indien und Brasilien.“

Betrachtet man die Zahlen genau, so ist das Herzstück des BRIC-Akronyms die Zunahme der chinesischen Ressourcen, doch eine angenehme Überraschung ist die Rolle Brasiliens. Als das BRIC-Akronym ursprünglich erfunden wurde, war Brasilien, so The Economist, „ein Land mit einer Wachstumsrate so winzig wie seine Badeanzüge, ein Opfer jeder daherkommenden Finanzkrise, ein Ort chronischer politischer Instabilität, dessen ungeheure Fähigkeit zur Vergeudung seines offensichtlichen Potenzials so legendär war wie sein Talent für Fußball und Karneval, [das] nicht zu diesen sich herausbildenden Titanen zu gehören schien.“

Heute, so die Zeitschrift, „deklassiert Brasilien die anderen BRIC-Staaten in mehrfacher Hinsicht. Anders als China ist es eine Demokratie. Anders als Indien hat es keine Aufständischen, keine ethnischen und religiösen Konflikte und keine feindlichen Nachbarn. Anders als Russland exportiert es mehr als Öl und Waffen und behandelt ausländische Investoren mit Respekt.“

Seit es in den 1990er Jahren die Inflation unter Kontrolle brachte und Marktreformen einleitete, zeigt Brasilien eine beeindruckende wirtschaftliche Wachstumsrate von rund 5%. Mit einer Fläche beinahe drei Mal so groß wie Indien, einem Alphabetisierungsgrad von fast 90% seiner 200 Millionen Einwohner, ein BIP, das mit zwei Billionen Dollar dem Russlands entspricht, und ein Prokopfeinkommen von 10.000 Dollar (drei Mal so viel wie Indien und fast doppelt so viel wie China) verfügt Brasilien über beeindruckende Machtressourcen. Die Entdeckung riesiger Ölreserven vor der Küste im Jahre 2007 verspricht zudem, Brasilien zu einer bedeutenden Macht auch im Energiebereich zu machen.

Wie die übrigen BRIC-Staaten steht auch Brasilien vor einer Anzahl ernster Probleme. Im Korruptionswahrnehmungsindex von Transparency International rangiert es unter 180 Ländern an 75. Stelle (China: 79; Indien: 84, Russland: 146). Das Weltwirtschaftsforum sieht Brasilien, was seine wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit angeht, auf Platz 56 unter 133 Ländern (China: 29, Indien: 49, Russland: 63). Armut und Ungleichheit bleiben ernste Probleme. Brasiliens Gini-Koeffizient liegt bei 0,57 (1,0 steht für eine absolute Ungleichheit, bei der eine einzige Person alle Einkünfte erzielt), verglichen mit 0,45 für die USA, 0,42 für China, 0,37 für Indien und 0,42 für Russland.

Wie ernst also sollten Analysten den Begriff BRIC nehmen? Als Indikator für sich bietende wirtschaftliche Chancen sollten sie ihn begrüßen, auch wenn es sinnvoller wäre, Russland durch Indonesien zu ersetzen. In politischer Hinsicht konkurrieren China, Indien und Russland um die Macht in Asien, und Brasilien und Indien leiden unter Chinas unterbewerteter Währung. In sofern dürften sich die BRIC-Länder kaum zu einer ernst zu nehmenden politischen Organisation gleich gesinnter Staaten entwickeln.

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