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Europas Amtsschimmel hilft Russland

PARIS – Die EU-Regeln für Ausgaben und Verfahren im öffentlichen Vergabewesen sind angesichts der Bedrohung durch Russlands Großinvasion in der Ukraine vollkommen unzulänglich. Wären die Alliierten im Zweiten Weltkrieg an derartige Auflagen gebunden gewesen, hätten sie im Jahr 1944 weder Landungsboote für die Invasion in der Normandie kaufen können noch wären sie in der Lage gewesen, General Charles de Gaulles Freie Französische Streitkräfte auszurüsten oder rechtzeitig Kriegsanleihen auszugeben. Die EU-Vorschriften untergraben die Möglichkeiten der Union, die Auswirkungen des Krieges auf Europa selbst abzumildern, schwächen ihre Fähigkeit, sich vor einem breiten Spektrum hybrider Angriffe zu schützen und sorgen für eine Verlängerung der militärischen Aggression Russlands gegen die Ukraine.

Aus diesem Grund haben einige europäische Spitzenpolitiker die EU wiederholt aufgefordert, ihre Wirtschaft auf den Kriegsmodus umzustellen. Der französische Präsident Emmanuel Macron hat beispielsweise eine Länderkoalition zusammengerufen, um die Unterstützung für die Ukraine zu verstärken. Doch obwohl ein derartiger Kurswechsel dringend notwendig ist, beschränken sich die entsprechenden Bemühungen bisher meist auf den militärischen Bereich, wodurch sowohl die Ukraine als auch die EU in anderen Bereichen angreifbar bleiben.

So würde sich beispielsweise das Prozedere für die Finanzierung und den Bau einer neuen Strom-Verbindungsleitung in die Ukraine – die angesichts der intensivierten russischen Angriffe auf die Energieinfrastruktur immer unverzichtbarer werden könnte -  wohl nicht von einem Verfahren aus der Zeit vor dem Krieg unterscheiden. Damals wie heute kann ein Projekt, das beispielsweise in einem Jahr verwirklicht werden könnte, aufgrund bürokratischer Hindernisse leicht mehrere Jahre in Anspruch nehmen.

Als Russland im Herbst 2022 die Stromerzeugungskapazitäten der Ukraine zu zerstören begann, beantragte Rumänien im Rahmen des EU-Aufbauinstruments NextGenerationEU, Mittel für eine Stromverbindungsleitung in die Republik Moldau, wo es ebenfalls schon zu Stromausfällen gekommen war. Nach neunmonatiger Vorarbeit kam die EU zu dem offensichtlichen Schluss, das Projekt sei wirtschaftlich wenig sinnvoll. Diese Einschätzung ist zwar nach den Kriterien für die Finanzierung von Projekten im Rahmen der NextGenerationEU und unter dem Gesichtspunkt der Gewinnmaximierung richtig, lässt aber die umfassenderen Risiken in Verbindung mit Russlands brutalem Krieg gegen die EU und die Kandidatenländer außer Acht.

Ähnliche Probleme ergeben sich bei anderen Infrastrukturausgaben. Wenn Polen oder Estland heute aus Sicherheitsgründen eine Straße oder Brücke bauen müssten - um beispielsweise Kapazitäten für den Einsatz militärischen Geräts entlang der Grenze oder in einem schwer zugänglichen Grenzdorf zu erhöhen - wäre es schwierig, im Schnellverfahren oder überhaupt Zugang zu Finanzmitteln von internationalen Finanzinstitutionen, dem Kohäsionsfonds der EU oder NextGenerationEU zu erhalten - von Weltbank, der Europäischen Investitionsbank, der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung oder der Entwicklungsbank des Europarats ganz zu schweigen. Doch was in normalen Zeiten fiskalisch unvernünftig sein mag, bekommt in einer Kriegswirtschaft neue Bedeutung. Tatsächlich würden alle Mitgliedsländer profitieren, würde man die Möglichkeiten der Truppenverlegung oder des Transports militärischen Geräts in den Ländern an den EU-Außengrenzen verbessern.

Europa zeigt sich auf diplomatischer Ebene zwar entschlossen, aber wenn es um die Bereitstellung von Ressourcen geht, herrscht weiterhin Zögerlichkeit. Die Situation ist vergleichbar mit den ersten Jahren der mehrjährigen Schuldenkrise in der Eurozone, die 2009 einsetzte und erst zu einem Ende kam, als der damalige Präsident der Europäischen Zentralbank Mario Draghi sein berühmtes Versprechen abgab, die EZB werde „alles tun, was nötig ist“, um den Euro zu retten. Ein Bekenntnis, wonach man „alles tun würde” um Russlands Sieg zu verhindern, muss die EU allerdings erst noch abgeben. Der Unterschied zwischen der Dotierung des EU-Aufbauinstruments in der Höhe von 750 Milliarden Euro und der Schwierigkeit, auch nur 100 Milliarden Euro für den Existenzkampf der Ukraine im größten Krieg des Kontinents seit 1945 aufzubringen, verdeutlicht die Abneigung Europas gegen gemeinsame Projekte abseits der Wirtschaft.

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Um die Sicherheitsbedrohung durch Russland zu entschärfen, muss sich die EU ändern - und das rasch. Das bedeutet, der Ukraine mehr Hilfe zukommen zu lassen, einen Notfallplan für die Aufstockung der europäischen Militärproduktion auszuarbeiten und ein europäisches Kriegswirtschaftsgesetz zu verabschieden.

Zunächst sollte die EU in Erwägung ziehen, die Ukraine mit einem Lend-Lease-Programm, zu unterstützen, ähnlich jenem, das die Vereinigten Staaten vor dem offiziellen Eintritt in den Zweiten Weltkrieg zur Versorgung der Alliierten mit militärischer Ausrüstung, Nahrung und anderen materiellen Ressourcen einrichteten. Damals stellten die USA Güter im Wert von etwa 50 Milliarden Dollar (heutiger Wert rund 800 Milliarden Dollar) zur Verfügung und stundeten die Rückzahlung.

Der größte Teil dieser Schulden wurde in Form einer „gemeinsamen Aktion“ zur Errichtung einer liberalisierten Wirtschaftsordnung zurückgezahlt, ein kleinerer Teil wurde jedoch tatsächlich getilgt - das Vereinigte Königreich zahlte seine letzte Rate im Jahr 2006. Die EU könnte zur Finanzierung eines derartigen Programms eine gemeinsame Anleihe aufnehmen, wie zuvor im Fall des Aufbauinstruments. Die Bedrohung der EU durch den Ukraine-Krieg ist wohl größer als jene durch Covid-19.

Zweitens muss die europäische Politik Krisenpläne für militärische Notfälle erarbeiten, darunter zur Umstellung ziviler Fabriken auf Rüstungsbetriebe. Immerhin begann Ford im Zweiten Weltkrieg mit dem Zusammenbau von B-24-Bombern and Chrysler verlegte sich auf die Fertigung von Panzern.

Schließlich würde ein europäisches Kriegswirtschaftsgesetz dazu beitragen, die Auswirkungen hybrider Angriffe auf die EU durch feindliche Mächte abzuschwächen, wie etwa auf die Strominfrastruktur, die Gasversorgung und Telekommunikationsgeräte. Außerdem hätte man mit einem derartigen Gesetz ein solides Rahmenwerk für den Umgang mit militärischen und sicherheitspolitischen Unzulänglichkeiten. Es gäbe Leitlinien für beschleunigte Beschaffungen, den Ausbau von Industriestandorten, die Vergabe von Aufträgen, die Einführung von Handelskontrollen und die Sicherung von Lieferketten.

Dieser neue Rechtsrahmen sollte sich am US-amerikanischen Kriegswirtschaftsgesetz Defense Production Act (DPA) orientieren, der 1950 in Kraft trat und es dem Präsidenten ermöglicht, die Bereitstellung von Material und Dienstleistungen, die zur Stärkung der Landesverteidigung im weitesten Sinne benötigt werden, durch Regulierung privater Unternehmen - oder sogar Produktionsanordnungen – zu beschleunigen und auszuweiten. Während der Covid-19-Krise wurden Unternehmen beispielsweise im Rahmen des DPA verpflichtet, staatlichen Aufträgen für medizinische Güter und Ausrüstungen höchste Priorität einzuräumen. Neben direkten Käufen und Lieferverpflichtungen ermöglicht der DPA auch die Nutzung anderer finanzieller Anreize wie Darlehen und Bürgschaften zur Erhöhung der Einsatzbereitschaft im eigenen Land, wozu auch die Finanzierung von Forschung und Entwicklung gehört.

Ein europäisches Kriegswirtschaftsgesetz würde einen Rahmen zur Bewältigung hybrider - und möglicherweise auch konventioneller - Bedrohungen durch feindliche Mächte schaffen und dazu beitragen, die Verfahren der öffentlichen Auftragsvergabe und der öffentlichen Ausgaben zu beschleunigen, ohne dabei institutionelle Kontrollen zu beeinträchtigen. Die Verabschiedung eines derartigen Gesetzes in Kombination mit einem Lend-Lease-Programm für die Ukraine und Krisenplänen für militärische Notfälle wäre ein glaubwürdiges Bekenntnis der EU zu ihrer Verteidigung und zu ihrem Nato-Engagement. Angesichts des umfassenden Krieges in ihrer Nachbarschaft ist es höchste Zeit, dass sich die Union der Realität stellt: Sie muss sich selbst schützen.

Übersetzung: Helga Klinger-Groier

https://prosyn.org/6Kn5C7gde